Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-215]

Mode und modern

Ueberall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirthschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da finden sich auch noch die Nationaltrachten. Dagegen herrscht die Mode, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich finden. Die Mode ist also neben den Tugenden des jetzigen Europa zu finden: sollte sie wirklich deren Schattenseite sein? — Zunächst sagt die männliche Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von Dem, der sie trägt, aus, dass der Europäer nicht als Einzelner, noch als Standes- und Volksgenosse auffallen will, dass er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat; dann dass er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Ueppige in Stoff und Faltenwurf im Widerspruch mit seiner Arbeit findet; endlich dass er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als die hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte: während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesammtcharakters der männlichen Mode giebt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtsthuer der grossen Städte hervorbringt, also Derer, welche als europäische Menschen noch nicht reif geworden sind. — Die europäischen Frauen sind diess noch viel weniger, wesshalb die Schwankungen bei ihnen viel grösser sind: sie wollen auch das Nationale nicht, und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als Einzelne wollen sie sehr gern auffallen; ebenso soll Niemand schon durch ihre Bekleidung in Zweifel gelassen werden, dass sie zu einer angeseheneren Classe der Gesellschaft (zur „guten“ oder „hohen“ oder „grossen“ Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Classe gehören. Vor Allem aber will die junge Frau Nichts tragen, was die etwas ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt: die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht, — aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfindungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Blosstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt oder, um die ganze Wahrheit zu sagen: hat man wieder einmal den Erfindungsgeist älterer höfischer Culturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen costümirten Erdkreis zu Rathe gezogen und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inscenirung des schönen Fleisches zusammengekoppelt, so entdeckt man endlich immer wieder, dass man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vortheil verstanden habe, dass, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckenspielen mit dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung: die etwas älteren jungen Frauen finden, dass ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von Neuem. Je mehr aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersclassen den Vorrang zugestehen, desto geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, desto einfacher ihr Putz: über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urtheil sprechen darf, also nicht nach dem Maassstab der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europa’s, derer nämlich, in welchen jetzt der geist- und formerfindende Genius Europa’s seine liebste Heimath hat. — Im Ganzen wird also gerade nicht das Wechselnde das charakteristische Zeichen der Mode und des Modernen sein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch ungereiften männlichen und weiblichen Europäer: sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. Dem entsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europa’s für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfinden, in Anbetracht dessen, dass der Formensinn nicht Jedermann geschenkt zu sein pflegt: auch ist es wirklich kein allzu hochfliegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfinder und Neuerer in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Hass gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, dass er dann ein Costüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben, — es hat nie eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache thut. — Hier, wo die Begriffe „modern“ und „europäisch“ fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien’s, umfasst: namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff „Europa“; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben.