Facta Ficta

vitam impendere vero

Nietzsche thinking

[MA-WS-41]

Die Erbreichen der Moralität

Es giebt auch im Moralischen einen Erbreichthum: ihn besitzen die Sanften, Gutmüthigen, Mitleidigen, Mildthätigen, welche Alle die gute Handlungsweise, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichthum ist, dass man von ihm fortwährend darreichen und mittheilen muss, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und dass er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen: und zwar, was das Merkwürdigste und Beste ist, nicht zu Gunsten eines dereinstigen Mittelmaasses zwischen arm und reich, sondern zu Gunsten eines allgemeinen Reich- und Ueberreich-werdens. — So wie hier geschehen ist, lässt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichthum zusammenfassen: aber es scheint mir, dass dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrecht erhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand, so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen starken Hang zum Maasshalten, werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität: indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildthätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht — und wie leider zu sagen ist, bestenfalls — angenehme schwächliche Taugenichtse.